Autismusshirt

Autismusshirt

Samstag, 1. März 2014

Hallo,
heute geht es weiter mit dem 2. Kriterium, das typisch ist für Kanner-Autismus.


  1. Kriterium: Beeinträchtigung der Kommunikation
-        stark verzögerte Sprachentwicklung

-        völlig fehlende Sprachentwicklung

-        Echolalie: Wörter werden nur wiederholt (wie ein Echo)

-        Entwicklung von Neologismen: Erfindung neuer Wörter, die für die Autisten eine spezielle Bedeutung haben

-        Neigung zu Perseverationen: beharrliche Wiederholung von Wörtern in unpassenden Zusammenhängen

-        pronominale Umkehr: Die Kinder sprechen von sich in der 2. oder 3. Person; reden den Anderen als „Du“ an

-        autistische Menschen können keine Ironie verstehen, auch nicht zwischen den Zeilen lesen; sie nehmen alles Gesagte wortwörtlich

-        eintönige Sprachmelodie; abgehackter Sprechrhythmus; inadäquate Betonung von Wörtern

-        Fehlen der Fähigkeit zu Rollenspielen oder sozialen Imitationsspielen

-        Spielzeug wird zweckentfremdet benutzt; es wird aufgereiht, zum Klopfen benutzt, stereotyp gedreht, intensiv betrachtet. Oft sind nur Teile des Spielzeugs interessant, z. B. Räder zum Drehen

-        überselektive optische und akustische Wahrnehmung


Fortsetzung des Fallbeispiels

[Je älter Marie wurde, desto mehr stieg die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Autismus Schuld war an ihrer Sprachlosigkeit. Ca. 50% der Menschen mit frühkindlichem Autismus lernen nicht sprechen. ... Allerdings gibt sie viele Laute von sich, was wir nur mit dem Begriff < gaggeln > bezeichnen können. Lustig und total süß hört sich das an; aber niemand von uns ist in der Lage, das nachzumachen. ...
Später fing sie an, ganz wenige einzelne Wörter wie ein Papagei mehr oder weniger undeutlich nachzuplappern. Das nennt die Fachsprache < Echolalie >.  Mit < tschüss > verband sie alle Situationen, die mit Abschied und Schluss machen zu tun hatten und bei < da > zeigte sie dabei endlich auf  Gegenstände, was sie über drei Jahre lang einfach verweigert hatte. Das erleichterte erheblich die Kommunikation. Bisher hatte sie meist nur  dagestanden und geschrieen und wir mussten raten, was sie wollte. Oder sie benutze einen von uns als Werkzeug, indem sie eine unserer Hände ergriff, die sie dann dorthin zog, wo sie für sie etwas tun oder holen sollte.
Recht bald jedoch merkten wir, dass Marie diese wenigen Worte gezielt einsetzen konnte, was viele Autisten nicht vermögen. Denn leider kommt es vor, dass ein hoher Prozentsatz autistischer Kinder einen niedrigen IQ hat und deshalb ihre auswendig gelernten Worte einfach nur nachplappern. Marie jedoch setzte das < tschüss > zunehmend gezielter ein und versuchte damit auch unliebsame Therapiestunden zu beenden oder Mama zu deuten, sie möge doch endlich aufhören zu telefonieren. ...
Die nette Dame vom Familien unterstützenden Dienst, die sich einmal pro Woche zwei Stunden mit Marie beschäftigte, hatte es geschafft, dass die Kleine eines Tages die Zahlen von 1 – 12 nachsagen konnte. Die Zahlen halfen Marie, die Anzahl ihrer Kleidungsstücke abzuzählen, die sie eines Tages anfing, sich selber auszusuchen. Es war jedes Mal ganz süß, wenn sie mit einem < ein >, < swei >, < dei >, < vier >, einen Body, eine Strumpfhose, ein Oberteil und eine Hose abzählte. Wir alle waren so entzückt, dass wir sie dafür hätten knuddeln können. Auch sonstige kleine Mengen vermochte sie mittels der Zahlen einzugrenzen.
Aber das Wort < Mama > kam ihr einfach nicht über ihre Lippen, ... 
Marie wiederum konnte sich allerdings hervorragend durch Geräusche verständlich machen. Nachdem wir erstmals mit ihr bei einem Mc Donalds gewesen waren, in dem Maschinen ziemlich laute Tut-Töne von sich gaben, konnte sie durch genau diese Töne energisch kundtun, wenn sie wieder zu Mäcces wollte. Da lag wohl an ihrer vorhandenen Musikalität. ... 
Allerdings bildete sie immer mehr Silben und daraus fortlaufend ihre eigene Form der Äußerung. Im Laufe der Zeit babbelte sie ganze Sätze in einer völlig unverständlichen „Sprache“, die sich in keiner Weise an die deutsche anlehnte. Ein Gemisch aus Chinesisch und Arabisch, Grunzen und Rachentönen hätte es auch sein können. Sie lernte auch zu schimpfen und zu befehlen, also ihre Tonlage einer Stimmung anzupassen. Wenn sie sauer auf ein Spielzeug war, konnte sie fürchterlich laut wettern und wenn sie einen von uns auf einen Stuhl verweisen wollte, tat sie es in einem Befehlston, auf den ein General neidisch geworden wäre. Obwohl man nichts verstand, war der Inhalt ihrer Aussage einschließlich Gesten unmissverständlich. Man stelle sich eine Vierjährige vor, die ganz selbstbewusst und energisch ihrer Mutter oder Oma befiehlt, sich auf bestimmten einen Stuhl zu setzen. Manchmal mussten wir uns das Lachen verkneifen, so traurig und schräg der ganze Sachverhalt auch war.
Im Laufe der Zeit merkten wir, dass sich in gewissen Situationen bestimmte Redewendungen wiederholten. Sie waren jedoch so merkwürdig, dass wir nicht in der Lage gewesen wären, sie trotz vielfachen Hörens wiederholen und wiedergeben zu können. Diese außergewöhnliche Kombi aus Buchstaben konnte sich unser Gehirn einfach nicht merken.
Für manche Begriffe entwickelte sie eigene. Dafür gibt es wieder einen ach so tollen Fachbegriff. Marie bildete < Neologismen >, erfand also neue Wörter, quasi ihre eigene Sprache.  < Fertig >“ vermochte sie beispielsweise nicht zu sagen; es hieß bei ihr  < adde > – aber beide Seiten verstanden sich. Irgendwann hatten wir den Eindruck, dass Marie meinte, sie mache das gleiche wie wir, sie spreche, drücke sich durch Worte und Sätze aus, obwohl sie immer noch sehr viele Gesten ohne Worte einsetzte. Merkte sie gar nicht, dass wir ihr Silbengewirr nicht verstanden, dass es anders klang als unsere Sprache?] (Zitat aus meinem Buch, das im April 14 erscheint)

Oft verabschiedete sich die Oma mit den Worten „Tschüss, mein Fant“. Wenn Marie ihrerseits die Oma verabschieden wollte, versuchte sie, diesen Satz nachzusprechen. Das klang zwar eher wie „tishahan“, aber für die Ohren von Mutter und Oma eindeutig. Ganz klar jedoch zeigt sich darin die pronominale Umkehr, die typisch ist für autistische Kinder. Marie spricht von sich als „mein“ (Fant).

[Dass Autisten Spielzeug in zweckentfremdeter Weise verwenden, wussten wir bereits. Aber uns verblüffte Maries Kombinationsfähigkeit während eines Besuchs bei der Kinderpsychologin im SPZ. Es war uns sofort klar, dass sie auf keinen Fall den ihr angebotenen Hasen mit der Schnur hinter sich herziehen würde. Auch würde sie sich nicht auf imitierendes Spielen einlassen können und mit dem Kindergeschirr den Tisch decken. Aber damals, mit dreieinhalb, hatte Marie gerade eine Phase, in der sie wahnsinnig gerne Perlen auf eine Schnur fädelte und auch sonst versuchte, Fäden durch alles zu stecken, was Löcher hatte. Sie überlegte einen Augenblick, ergriff die Schnur des Hasen, nahm sich eine Plastikkindertasse, zog die Schnur durch deren Henkel und war zufrieden. Die Kinderpsychologin konnte nur vermerken, was sie an Defiziten sah; wir aber staunten über die Zusammenhänge, weil wir den Hintergrund von Maries Handlung kannten und waren im Stillen sogar stolz auf sie.] (Zitat aus meinem Buch, das im April 14 erscheint)

Die überselektive Wahrnehmung hatte sich schon bei der U7 gezeigt, als Marie das große bunte Spielzeug „übersah“, aber das kleine Radiergummi entdeckte und das laute Rufen und Klatschen des Arztes „überhörte“, aber auf das kaum hörbare Fallen des Zettels sofort reagierte.

Marie liebt Autos, besonders Trecker und Bagger, die sie jedoch bevorzugt von klein nach groß hintereinander aufreiht. Mit der einzigen Puppe, die sie seit kurzem akzeptiert, spielt sie nicht, sondern lässt sie nur von ihrer Mutter wie sich selber wickeln und mit ihren eigenen Bekleidungsstücken anziehen.
 

So, das war heute sehr lang. Ich hoffe auf viele Kommentare.
Tschüss!