Das heiß ersehnte Kind ist da.
Die ganze Liebe der Mutter konzentriert sich auf dieses kleine, hilflose Wesen.
Sie möchte es beim Stillen fest an ihren Körper drücken, beim Baden und Wickeln streicheln, beim Schreien hochheben und trösten.
Doch: Ihr Kind ist anders. Es schreit bei Berührungen, es will nicht gestillt werden, es wehrt ab, wenn es auf den Arm genommen wird. Nach mehreren Monaten kommt kein Lächeln zurück, wenn die Mama es anlächelt - es guckt vorbei. Es reckt der Mutter nicht die Ärmchen entgegen, um aus dem Bettchen gehoben zu werden. Es liegt ruhig und teilnahmslos da oder spielt versunken mit den eigenen Fingerchen oder einem kleinen Spielzeug. Oder es schreit und schreit und schreit, ohne dass Ärzte eine Ursache finden können.
Sie sind verzweifelt, suchen die Schuld bei sich, zweifeln an Ihren Fähigkeiten als Mutter. Sie fragen sich, warum Ihr Kind Sie ablehnt. Langsam, im Laufe des zweiten Lebensjahres merken Sie, dass das Kind sich zwar motorisch normal entwickelt, jedoch keine Anstalten macht zu brabbeln, weiterhin keinen Kontakt zu Ihnen aufnimmt, auf nichts zeigt, sich kaum für sein Umfeld interessiert und Spielzeug nur sehr eingeschränkt benutzt.
So haben Sie sich das Muttersein, das Leben mit einem Säugling und Kleinkind nicht vorgestellt. Sie fühlen sich als Versager, weil sich zwischen Ihnen und Ihrem Kind keine Bindung aufgebaut hat.
Viele Mütter können diese Besonderheiten so früh gar nicht bewusst reflektieren.
Hier ein Zitat aus meinem Buch:
"Fanti, das kleine Schlitzohr, Leben mit einem autistischen Kleinkind"
http://www.tiponi-verlag.de/leseprobe-ilse-gretenkord/
Meine
Tochter hatte ausnahmsweise eine Reitstunde am frühen Nachmittag. Ich selber
kam gerade von einer längeren Verpflichtung und es reichte zeitlich nicht mehr,
dass meine Tochter mir zu Hause Marie zur Aufsicht übergab. Also verabredeten
wir uns am Reitstall, wo ich die Kleine übernehmen sollte. Wir kamen zeitgleich
an und parkten die Autos nebeneinander.
Was
erwartet eine Oma von ihrer fast zweijährigen Enkelin, mit der sie zusammen im
Haus lebt, wenn die Kleine aus dem Autositz gehoben wird und die Oma mit
offenen Armen daneben steht?
Was
würden Sie von Ihrem Familienhund erwarten?
Dass er freudig auf Sie
zuläuft, heftig mit dem Schwanz wedelt und Sie anspringt – wenn Sie es ihm
nicht unter den strengen Augen von Hundetrainern aberzogen haben -.
Was
aber passierte damals mit Marie? Meine Tochter stellte sie neben das Auto.
Marie schaute völlig abwesend durch mich hindurch, drehte sich auf dem Absatz
um und rannte auf die nächste Weide.
Sie sah sich weder nach ihrer Mutter noch nach mir um, reagierte auf
keinerlei Rufen. Wir schienen für sie überhaupt nicht zu existieren.
Ich
hatte jahrelang Psychologie unterrichtet und mir schoss in dem Moment nur ein
Gedanke in den Kopf! < Autismus! >
Es
traf mich wie ein Schlag. Diese Sekunde stellte das zentrale Schlüsselerlebnis
dar und den Wendepunkt in unserem Leben zu dritt.
Was
sollte nun werden?
Die offizielle Diagnose ließ dann gar nicht so lange auf sich warten. Eigentlich hätte das reichen müssen, um zu beweisen, dass die fehlende Bindung zwischen Mutter und Kind in keiner Weise auf ein Fehlverhalten der Mutter zurückzuführen ist und jegliche Schuldgefühle hier keinen Platz haben.
Trotzdem: Das Wichtigste, die emotionale Bindung des Kindes an die Mutter, hat nicht stattgefunden. Und obwohl Mütter, die ein autistisches Kind haben, dieses von ganzem Herzen lieben, bleibt bei ihnen ein großes Loch. Sie haben eine tiefe Frustration erlebt, die therapeutisch aufgearbeitet werden muss, damit sie nicht ein Leben lang darunter leiden. Doch darauf ist noch niemand gekommen. Den Kindern wird therapeutisch geholfen - den Müttern wird keine Hilfe angeboten.