heute soll das erste wichtige Kriterium erklärt werden, das frühkindlichen Autismus ausmacht.
- Kriterium: Beeinträchtigung der sozialen Interaktion
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schon als Baby kein Entgegenstrecken der Arme hin zur Mutter
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kein Erwidern des Lächeln der Mutter
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kein Blickkontakt
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kein Vermissen der Mutter; Versorgung durch Fremde problemlos
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Weglaufen in fremden Situationen; keine Rückversicherung bei
den Bezugspersonen, ob sie noch da sind
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kein Trostsuchen bei Verletzungen
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„trotzdem“ Kontaktsuche – essen nicht selbstständig, lassen
sich nur füttern
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Menschen werden eher als Gegenstände betrachtet
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Tiere werden als Gegenstände betrachtet
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Gegenstände ersetzen lebende Sozialpartner (an Gegenständen
wird sich erfreut)
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fehlende Empathie (z.B. lachen, wenn jemand vor Schmerz
aufschreit)
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Fehlen gemeinsam geteilter Aufmerksamkeit (lässt niemanden
„mitspielen“)
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kein Zeigen auf Gegenstände
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keine Reaktion, wenn auf Gegenstände gezeigt wird
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im Laufe der Zeit besserer Kontakt zu Erwachsenen als zu
Kindern
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schwieriger Kontaktaufbau zu Kindern
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manche lassen sich kaum anfassen
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manche nehmen unangemessenen sozialen Kontakt zu Fremden auf
Fortsetzung des Fallbeispiels
Im Rückblick konnte Maries Mutter bestätigen, dass sie sehr darunter gelitten hatte, dass das Kind sie nicht „zu mögen schien“. Das Baby streckte ihr nie die Ärmchen zum Hochheben entgegen, lächelte nicht zurück. Es gab keinen Blickkontakt und die Mutter hatte das Gefühl, Marie sei es egal, ob sie sie versorgte oder sonst jemand. Sie fühlte sich nicht als enge Bezugsperson des Babys sondern nur als „Dienstleisterin“. „Trotzdem“ lernte Marie erst mit knapp vier Jahren das selbstständige Essen; bis dahin ließ sie sich ausschließlich füttern – allerdings fast nie auf dem Schoß sitzend, sondern sie ruhelos im Raum herum lief und sich ab und zu einen Löffel abholte.
Dann kam der Tag, als ein Schlüsselerlebnis uns auf den Verdacht "Autismus" brachte.Ein Auszug aus meinem Buch, das demnächst erscheint:
[Meine Tochter hatte ausnahmsweise eine Reitstunde am
frühen Nachmittag. Ich selber kam gerade von einer längeren Verpflichtung und
es reichte zeitlich nicht mehr, dass meine Tochter mir zu Hause Marie zur
Aufsicht übergab. Also verabredeten wir uns am Reitstall, wo ich die Kleine
übernehmen sollte. Wir kamen zeitgleich an und parkten die Autos nebeneinander.
Was erwartet eine Oma von ihrer
fast zweijährigen Enkelin, mit der sie zusammen im Haus lebt, wenn die Kleine
aus dem Autositz gehoben wird und die Oma mit offenen Armen daneben steht?
Was würden Sie von Ihrem Familienhund
erwarten?
Dass er freudig auf Sie zuläuft, heftig mit dem Schwanz
wedelt und Sie anspringt – wenn Sie es ihm nicht unter den strengen Augen von
Hundetrainern aberzogen haben -.
Was aber passierte damals mit
Marie? Meine Tochter stellte sie neben das Auto. Marie schaute völlig abwesend
durch mich hindurch, drehte sich auf dem Absatz um und rannte auf die nächste
Weide. Sie sah sich weder nach ihrer
Mutter noch nach mir um, reagierte auf keinerlei Rufen. Wir schienen für sie
überhaupt nicht zu existieren. Ich hatte jahrelang Psychologie unterrichtet und
mir schoss in dem Moment nur ein Gedanke in den Kopf! < Autismus!
> Es traf mich wie ein Schlag. Diese Sekunde stellte das zentrale
Schlüsselerlebnis dar und den Wendepunkt in unserem Leben zu dritt. ]
Marie wuchs im Umfeld von vielen Tieren auf. Allein für
das Pferd ihrer Mutter zeigte sie früh ein gewisses Interesse, während sie
beispielsweise Hunde und Katzen lediglich als Gegenstände ansah. Als ihr eines
Tages einer der Kater auf der Terrasse im Weg stand, packte die Zweijährige
diesen beherzt mit beiden Händen ins Fell, hob ihn an und stellte ihn einen
Meter weiter wieder ab. Gottlob war das der friedlichste Kater und ließ sich
das gefallen, ohne sich zu wehren.
Marie spielte nur allein für sich. Sie ließ sich auf kein
gemeinsames Spielen mit ihrer Mutter ein, ließ sich auch nicht animieren, sich
einmal für ein anderes Spielzeug zu interessieren. Oft saß sie einfach da und
drückte stundenlang die Knöpfe eines Spielzeuges, das Musik machte und
beachtete niemanden, der ihr Zimmer betrat und sie dabei beobachtete. Sie
drückte durch Lachen und Glucksen ihre Freude aus, die sie bei der Musik
empfand, ohne diese Freude mit ihrer Mutter zu teilen.
In den ersten Monaten der Frühförderung hatte auch die
Therapeutin trotz aller Bemühungen kaum die Möglichkeit, Marie einmal kurz mit
dem mitgebrachten Material aus ihrer abgekapselten Spielsituation heraus zu
locken. Erst jetzt, mit knapp fünf Jahren, gelingt es der Ergotherapeutin
zeitweise, zusammen mit Marie eine Perlenkette aufzufädeln oder Murmeln zu
sortieren. Mittlerweile lässt Marie es – je nach Tagesform - zu, dass jemand
„mitspielt“; d.h. dass die Therapeutin sich auch Perlen oder Murmeln nehmen
darf. Im Bestfall gibt Marie ihr sogar Perlen oder Kugeln in die Hand.
Die Behutsamkeit der Therapeuten haben Marie bis zu
diesem Spielverhalten mit Erwachsenen bringen können. Vom Spielen mit Kindern
ist Marie noch weit entfernt. Normale Kinder verstehen nicht, wenn Marie sie
nur gelegentlich mitspielen lassen kann oder wenn sie sich nicht auf ihre
Spiele einlassen könnte. Auch fixiert sich Marie plötzlich auf irgendeinen Gegenstand, den sie unbedingt haben
muss. Wenn dies dann gerade ein Teil eines Spielzeuges ist, mit dem sich ein
anderes Kind befasst, ist Konfrontation vorprogrammiert. Denn Marie kann nicht
erklärt werden, warum sie dieses Teil nicht haben kann – dem anderen Kind kann
ebenso wenig verständlich gemacht werden, warum Marie genau jetzt genau dieses
Teil unbedingt braucht.
Marie lässt sich durchaus anfassen, wobei sie langes
Schmusen nicht mag und vor allen Dingen anfängt zu toben, wenn sie das Gefühl
hat, zwangsweise festgehalten zu werden. Sie lässt sich auch von Fremden an die
Hand nehmen und (fremden) Erwachsenen, die sie mag, nähert sie sich auch
ungeniert. So nimmt sie beispielsweise Handwerkern Werkzeuge aus der
Hosentasche oder steigt hinter ihnen auf die Leiter.
Marie bekommt jetzt einen
kleinen Therapiehund, der ihr Vertrauen gewinnen und ihre großen Defizite im
Bereich der Sozialkompetenzen verringern kann. Denn Tiere kommunizieren auf einer anderen Ebene als der Mensch.
Autisten sind Menschen, die sich und die Welt auf eine andere Weise wahrnehmen
als die so genannten „Normalos“. Sie spüren, denken, fühlen und kommunizieren
auf anderen Kanälen und empfangen auf anderen Antennen. Daher jedoch können sie
einen viel direkteren Zugang zu Tieren finden. Denn beim Kontakt zwischen Autisten und Tieren stört nicht das
Fehlen menschlicher Sprache, weil es viel mehr Formen der Verständigung gibt,
die von außen nicht greifbar sind, das Gegenüber jedoch unmittelbar erreichen.
Ein Beispiel: Zieht Marie der
Mutter kräftig an den Haaren, so lacht sie nur, wenn diese vor Schmerz
aufschreien. Sie kann durch ihren Autismus und die dadurch bedingte fehlende
Empathie unsere schmerzverzerrte Mimik und das Wort „Aua“ nicht angemessen
einordnen. Ein für autistische Kinder ausgebildeter Hund, dem sie zu fest am
Schwanz zieht, würde ihr durch ein leichtes Zwicken unmissverständlich
klarmachen, dass sie zu weit gegangen ist. Diese „Sprache“ könnte Marie
unmittelbar verstehen.
Das waren viele Informationen, die für heute reichen sollten.
Bald geht es weiter.
Tschüss!
P.S.: Ich würde mich über Fragen und Kommentare sehr freuen.
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