Große Hoffnung setzen wir auf die Förderschule, die
wir jetzt schon für Marie ausgesucht haben. Dort werden behinderte Kinder elf
Jahre lang gemäß ihrer persönlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten gefordert und
gefördert. Für ca. 8 – 10 Kinder sind jeweils zwei Lehrer zuständig, die
versuchen, ihnen lesen, schreiben, rechnen, kochen, Dinge des Alltags, aber
auch schwimmen beizubringen und sie darauf vorzubereiten, später in
Behindertenwerkstätten und betreuten Wohnheimen leben zu können.
Natürlich vermittelt diese Schule keinen
Schulabschluss. Aber was soll ein Kind wie Marie damit? Sie wird sich nie in
die normale Gesellschaft eingliedern lassen und dort ihren Platz einnehmen.
Umso lächerlicher ist es, dass ihre Mama das Recht hätte, sie auf eine
Regelschule zu schicken. Klasse. Was denken sich die Schulpolitiker bei dem so
genannten Konzept der Inklusion? Wer soll die Verantwortung für ein Kind wie
Marie übernehmen, die auch mit sechs Jahren nie unbeaufsichtigt sein dürfte,
was in einer Regelschule gar nicht zu leisten ist. Was soll Marie in einer
Regelschule, wenn sie nicht einmal die Anweisung versteht, sich auf den Stuhl
zu setzen, geschweige denn, dass sie diese dann auch befolgen würde? Was sonst
sollte sie von Unterricht mitbekommen? Ein Kind, das nicht eine Minute lang
still an einem Platz bleibt, sondern sich seinen Bereich und seine Materialien
selber sucht und keinerlei Unterrichtsinhalte verstünde. Soll es zum
Klassenclown werden? Soll es von Anfang an von den Mitschülern gemobbt werden?
Soll der Lehrer zwischendurch die Windel wechseln? Soll der Lehrer die Klasse
allein lassen, um hinter Marie herzulaufen, wenn sie wieder einmal aus der
Klassentür entwischt ist? Sollen sich alle köstlich amüsieren, wenn Marie
zwischendurch auf den Gedanken kommt, sich bis auf die Windel auszuziehen und
dann auf der Fensterbank herumzuspazieren? Wie sollen die anderen Kinder lernen
können, wenn Marie völlig unvermittelt und laut anfängt zu singen, ohne dass
man sie daran hindern könnte? Marie hätte auch bestimmt Spaß daran, den anderen
Kindern die Hefte und Stifte zu entreißen, den Papierkorb zu entleeren, die
Schultaschen der Mitschüler auszuräumen, das Licht im Raum ständig ein- und
auszuschalten. Ihr fiele bestimmt noch viel mehr ein.
Was denken sich Schulpolitiker dabei, gesunden
Kindern ein auf diese Weise behindertes Kind zuzumuten? Unterricht und Lernen
wird unmöglich, die Lehrkraft ist völlig überfordert, die Eltern sind zu Recht
aufgebracht. Marie gehört nicht in eine Regelschule. Sie muss in eine
Einrichtung, in der die Lehrer- Schüler-Relation eine andere ist, in der die
Lehrer speziell ausgebildet sind, in der andere behinderte Kinder ebenfalls das
Unterrichtstempo beeinträchtigen, so dass nur das geschafft wird, was machbar
ist, weil kein Lehrplan ein bestimmtes Soll vorgibt. Hier kann auch ein Kind
wie Marie langsam daran gewöhnt werden, dass sie eine Weile auf ihrem Stuhl
sitzen bleibt, dass sie sich bei anderen Kindern abguckt, gewisse Dinge im
Rahmen ihrer Fähigkeiten nachzumachen. Hier kann ein Lehrer sie wieder
einfangen, wenn sie aus der Klasse entwischt, ohne dass die anderen Kinder
unbeaufsichtigt zurück bleiben. Hier ist auch das Schulgelände gesichert, so
dass Schüler nicht weglaufen können. Hier kennt jeder Lehrer jeden Schüler, so
dass ein Kind, das sich aus Versehen mal irgendwo aufhält, wo es nicht
hingehört, sofort wieder in den richtigen Raum zurück gebracht wird.
In einer Regelgrundschule kommen oft schon die
Kleinen allein zur Schule, laufen selbstständig durchs Gebäude, finden ihre
Klasse, bleiben selber bei ihrer Gruppe und werden nur während der
Unterrichtsstunden und in den Pausen beaufsichtigt.
Undenkbar für ein Kind wie Marie. Man darf sie –
außer in einem abgeschlossenen Raum, der sicher ausgestattet ist – keine Minute aus dem Auge lassen. Sonst
macht sie sich selbstständig auf den Weg und niemand weiß, was passiert und ob
man sie überhaupt und wenn ja, unverletzt wiederfindet.
Integrative Schule ist durchaus sinnvoll für Kinder
mit körperlichen Behinderungen oder leichten geistigen Schwächen. Sie können
durch zusätzliche Hilfsmittel genauso lernen wie die gesunden Kinder und
dadurch auch Schulabschlüsse erwerben.
Aber die Idee, Förderschulen auf Dauer abschaffen zu
wollen und alle Kinder in Regelschulen zu integrieren, macht uns richtig Angst.
Sollte das tatsächlich noch während Maries schulpflichtiger Jahre umgesetzt
werden, setzen wir alle Hebel in Bewegung, um zu verhindern, dass sie dann noch
zur Schule gehen muss.
Noch jedoch haben wir die Hoffnung, dass Marie eine
schöne Schulzeit in der Förderschule erleben wird. Unsere einzige Sorge sind
momentan noch die langen Schultage. Mit knapp viereinhalb Jahren ist Marie
schon nach einer Therapiestunde geschafft und möchte am liebsten erst einmal
ihre Ruhe haben. Ein Schultag würde bedeuten: Abholen mit dem Behindertenbus
morgens um 7.00h; Unterricht von 8.00h bis 16.00h; Rückkehr nach Hause um
17.00h. Wenn sie dann immer noch ein ausführliches Zubettgehritual braucht
zuzüglich Körperpflege, vorher aber noch viel Zeit braucht, um die Eindrücke
des Tages zu verarbeiten: Dann wird die Nacht kurz und wahrscheinlich auch sehr
unruhig. Morgens braucht Marie auch für ihre ganzen Verrichtungen ca. 1,5
Stunden. Und je mehr wir drängen, desto langsamer geht es. Zwang führt zu gar
nichts. Momentan braucht sie mindestens 12 Stunden Schlaf. Die müssten
drastisch reduziert werden, wobei wir noch nicht einschätzen können, wie sie
das verkraftet.
Fakt ist, dass viele Schulen räumlich noch gar nicht auf die Situation eingerichtet sind. Ruheräume für Autisten, die sich zwischendurch zurückziehen müssen, gibt es nicht. Die Lehrer an Regelschulen sind nun mal keine Sonderpädagogen und sind deshalb nicht ausgebildet für den Umgang mit autistischen Kindern, die völlig anders reagieren als neurotypische Kinder. Lehrer, die sich um 20-30 Kinder in einer Klasse kümmern müssen, haben gar nicht die Möglichkeit, sich speziell um ein autistisches Kind zu bemühen. Die so genannten Schulbegleiter und Integrationshelfer, die autistischen Kindern zustehen, sind rar, werden oft nicht bewilligt, sind zum Teil keine Fachkräfte und bringen, wenn davon mehrere in der Klasse sind, viel Unruhe in den Unterricht.
An sich ist der Gedanke gut, Autisten nicht wie Sonderwesen zu betrachten und sie soweit wie möglich in die Gesellschaft einzubeziehen. Es gibt auch autistische Kinder, bei denen der Besuch einer Regelschule funktioniert. Denen sollte er auf keinen Fall verwehrt werden. Ich wehre mich nur dagegen, dass auf Dauer Förderschulen abgeschafft werden sollen, in denen Kinder (die sich im stressigen Trubel allgemeiner Schulen nie zurecht finden und dort gemobbt würden) in Ruhe nach ihren Fähigkeiten gefördert und gefordert werden.
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