Autismusshirt

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Donnerstag, 25. Juni 2015

Das Drama der Veränderung

Liebe Leser!
Kinder mit frühkindlichem Autismus neigen sehr dazu, dramatisch auf Veränderungen zu reagieren. Für viele ist es schon nicht möglich, wenn die Möbel in der Wohnung verstellt werden, die Farben der Zimmer sich ändern, Orte und Personen wechseln. Denn Gewohntes bringt Sicherheit und Halt, nimmt Ängste vor der "unheimlichen" Welt. Menschen mit frühkindlichem Autismus haben eine tiefgreifende Wahrnehmungsstörung - ich würde es lieber veränderte Wahrnehmung nennen. Wieso ist es grundsätzlich eine Störung, wenn ein Mensch die Dinge detaillierter betrachtet und dabei das Ganze aus dem Auge verliert? Ich denke, es kommt auf die Umwelt, auf die Umgebung des Autisten an, ob seine Art der Wahrnehmung als krankhafte Störung einzustufen ist. In einer reizarmen Umgebung, in der nicht Unmengen an Farben, Formen und Geräusche auf den Autisten einwirken und er sich auf die wenigen Dinge in allen Einzelheiten konzentrieren kann, nimmt er viel mehr wahr als ein Nicht-Autist. Das ist phantastisch und wir könnten viel daraus lernen. Man sagt den Autisten nach: "Sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht". Ja, aber sie sehen jeden einzelnen Baum in seiner Schönheit und Beschaffenheit, jedes einzelne Blatt, jedes Ästchen, jedes Detail der Baumrinde. 
Kommen wir zurück auf das eigentliche Thema. Meine nun 6-jährige Enkelin, die von frühkindlichem Autismus betroffen ist, hat ebenfalls Probleme mit Veränderungen, allerdings nicht mit der Umgebung. Veränderungen in der Wohnung, Fahrten zu verschiedenen Orten, Besuch fremder Leute: Alles das macht ihr nichts aus. Dafür hält sie sich lange an festen Ritualen fest, um darin ihre Sicherheit zu finden.
Was jedoch der Kleinen große Probleme bereitet, ist die Veränderung, die jetzt auf sie zukommt. Der Abschied vom Kindergarten und das, was kommt: Das, was alle "Schule" nennen. Sie werden denken: "Das geht anderen Kindern doch auch so."
Ja und nein. Denn Helena Marie ist ein "besonderes" Kind. Sie kann noch nicht sprechen und versteht nicht alles. Niemand weiß also, was sie von dem mitbekommt, was man im Kindergarten über das Ende und über das, was kommen wird, erzählt. Sie kann nicht nachfragen, um ihre Unsicherheit  los zu werden. 
Deshalb baut sie ihre Ängste vor dem Gespür der drohenden Trennung vom heiß geliebten Kindergarten und der Angst vor dem Neuen, was alle "Schule" nennen, ab, indem sie wieder unkontrollierte Schrei- und Weinanfälle bekommt, auf alte Verhaltensweisen zurück greift und mit uraltem Spielzeug aus Babytagen spielt. Die Kleine ist völlig durcheinander, weil wir ihr nicht hinreichend erklären können, dass in der Förderschule viel gespielt wird, dass es dort Musik und Sport gibt, was Helena Marie besonders gefällt, dass sie dort mit Buchstaben und Zahlen umgehen kann, was sie schon lange zu Hause liebend gerne an ihrem Ipad ausführt. 
So müssen wir zusehen, wie sie versucht, die beängstigende Zukunft auf ihre Weise zu verarbeiten. Wir können ihr nur noch mehr Sicherheit in ihrem Zuhause schaffen, sie liebevoll auffangen, wenn sie momentan öfter als sonst "in ihre eigene Welt" abtaucht und niemanden an sich heran lässt.      

Samstag, 13. Juni 2015

Die Förderschule

Liebe Leser,
vor wenigen Tagen war Kennenlernnachmittag in der Förderschule, die meine Enkelin bald besuchen wird. Die Schule selber kannten wir schon; jetzt ging es darum, dass die Kleine schon einmal ihre zukünftige Klassenlehrerin, die weiteren Betreuer und die Mitschüler "beschnuppern" konnte.
Helena Marie hat zunächst etwas geklammert und dann ziemlich selbstständig ihr Umfeld erkundet. Als Kind mit frühkindlichem Autismus - noch fast ohne Sprache - und mit erheblicher Entwicklungsverzögerung kann sie nicht auf eine Regelschule gehen. Inklusion ist ein großes Wort: Aber leider gibt es nicht die passenden Integrationshelfer, die erforderlich wären, um die Kleine (die weder sauber noch trocken ist und Vieles einfach nicht versteht) hinreichend in einer lückenlosen 1:1-Betreuung durch einen normalen Schulalltag zu bringen.
Sie ist ein "besonderes" Kind. Das Wort "Behinderung" darf man ja nicht mehr in den Mund nehmen. Trotzdem darf man nicht "Sonderschule" sagen, sondern muss sie "Förderschule" nennen. Immer dieses schreckliche Aufpassen bei der Wortwahl. Ich persönlich habe kein Problem damit, meine Enkelin als behindert zu bezeichnen. Immerhin hat sie einen Schwerbehindertenausweis. Deshalb werde ich auch bei dem Wort bleiben.
Jetzt komme ich lieber wieder zu dem Nachmittag zurück. 
In Helenas Klasse kommen mit ihr vier neue Kinder und vier, die bereits ein Jahr auf der Schule sind. Es ist schon auffällig, dass von den vier neuen Kindern drei frühkindlichen Autismus haben. Kinder mit dieser starken Entwicklungsverzögerung und Wahrnehmungsstörung scheinen offenbar bei der Inklusion außen vor zu bleiben. Ich weiß selber, dass es im heutigen Schulsystem und in der Schulpraxis nicht funktionieren würde, weil am grünen Tisch geplant wird und keine Gelder zur Verfügung stehen, hinreichend viele und gut ausgebildete Integrationshelfer zur Verfügung zu stellen. Doch im heilpädagogischen Kindergarten hat  es wunderbar geklappt, dass meine Enkelin mit zehn normalen Kindern zusammen war, sehr viel von ihnen gelernt und alles mitgemacht hat und sich prächtig entwickeln konnte.
Dieser Faktor fällt jetzt in einer gewissen Hinsicht weg. Das Lernen durch Beobachtung, durch Abschauen von denen, die mehr können als sie. Ich habe keinerlei Berührungsängste mit behinderten Kindern. Jedes einzelne von ihnen ist ausgesprochen liebenswert und ein wertvoller Mensch. Natürlich kann Helena auch von diesen Kindern menschlich lernen; Vieles wird ihr möglicherweise an dieser Schule erspart bleiben. Es wird hoffentlich weniger Mobbing geben, weniger Konzentration auf Markenkleidung und neueste Trends, weniger bewusste Gewalt. Dafür aber wird sie die vermissen, von denen sie abschauen kann, wie sie ihre Wissbegier und ihre Lernfreude befriedigen kann. Ich befürchte, sie wird sich entsetzlich langweilen und dann auf dumme Gedanken kommen. Denn sie ist trotz ihrer Behinderung intelligent und clever. Sie hat sich mittels Ipad autodidaktisch das Alphabeth angeeignet, möchte ganze Wörter lesen, zählt mit Freude bis 200 und trickst uns aus, wo sie nur kann. 
Das alles ist mir durch den Kopf gegangen, als ich die vielen behinderten Kinder sah, von denen meine Enkelin bald den ganzen Tag umgeben sein wird. Ich vermute, sie wird zu diesen Gleichaltrigen keinen Kontakt aufnehmen (im Gegensatz zu den Gleichaltrigen im Kiga) sondern nur zu den erwachsenen Bezugspersonen - und das wäre schade. Ein Kind braucht Kontakt zu Kindern, zumal Helena Einzelkind ist. Ihre beiden neuen Mitschüler mit frühkindlichem Autismus haben ältere nicht-behinderte Geschwister, die Vieles ausgleichen können. 
Abwarten - und Tee trinken? (Ich hasse Tee).               

Dienstag, 9. Juni 2015

Die Sprache eines Kindes mit frühkindlichem Autismus

Liebe Leser!
Meine sechsjährige Enkelin mit frühkindlichem Autismus spricht fließend.
Sie redet manchmal minutenlang auf uns ein, spricht mit sich selber oder auch gerne mit den Sträuchern bei ihrem abendlichen Rundgang durch den Garten.
ABER! Was spricht sie? 
Nein - weder ihre Muttersprache noch eine sonst verständliche und nachvollziehbare "Fremdsprache". Sie spricht "autistisch", das sich für unsere, die deutsche Sprache gewohnte Ohren anhört wie ein Gemisch aus arabisch, japanisch und sonstigen fremden Klängen. Niemand weiß oder kann uns erklären, wie so etwas zustande kommt. Das Kind möchte sprachlich sehr viel mitteilen, es möchte sich verbal artikulieren, von Eindrücken erzählen. Doch es wählt ein undurchschaubares Sammelsurium aus Silben, die flüssig aneinander gereiht werden, jedoch für neurotypische Menschen keinerlei verstehbaren Sinn ergeben. 
Gleichzeitig lernt Helena Marie mittlerweile mühsam Wort für Wort ihre Muttersprache. Sie hat inzwischen einen aktiven Wortschatz von ca. 120 Wörtern; die meisten davon sind Substantive, die sie mehr oder weniger verständlich aussprechen kann. Normal ist in dem Alter eine Beherrschung von ca. 4000 Wörtern, aus denen vollständige, komplexe Sätze gebildet werden. Davon ist meine Enkelin meilenweit entfernt. Wir freuen uns riesig über jedes neue Wort, das sie einem Gegenstand zuordnen kann.  
Wie groß ihr passiver Wortschatz ist, der eigentlich bei ca. 20000 Wörtern liegen müsste, wissen wir manchmal nicht so wirklich. Bis vor etwa einem Jahr verstand sie uns fast noch überhaupt nicht. Doch wie unendlich schön ist es jetzt, wenn wir das Gefühl haben oder an der Reaktion des Kindes sehen, dass sie erfassen konnte, was wir ihr gesagt haben.
Was jedoch sehr bemerkenswert ist:
In den üblichen Tabellen über das Sprachvermögen "normaler" 6-jähriger Kinder steht:
"Sie können bis zehn zählen".
Helena Marie, unser Schatz mit frühkindlichem Autismus, die weit davon entfernt ist, ihre Muttersprache zu sprechen, zählt locker bis 200. Wie soll man das erklären?
Was noch auffällt:
Menschen, die die deutsche Sprache als Fremdsprache erlernen, lernen zugleich mit Vokabeln auch Grammatik und ganze Sätze. Sprachbegabte Menschen können das im Laufe der Zeit sehr gut realisieren, andere machen immer Fehler und werden sich eine Fremdsprache nie richtig aneignen. 
Kinder mit frühkindlichem Autismus erlernen ihre Muttersprache anders:
Sie lernen Wort für Wort, meist anhand von Bildern, die den Gegenstand oder die Tätigkeit zeigen. Sie müssen sich also zunächst eine Menge "Vokabeln" aneignen, bis irgendwann weitere Schritte der Sprachentwicklung möglich sind. Es sei denn, sie neigen zu "Echolalie", d.h.: Sie sprechen wie ein Echo ganze Sätze nach, ohne allerdings deren Sinn zu verstehen oder sie selbstständig bilden zu können.  
Leider ist das Ganze noch nicht hinreichend erforscht. Ich denke, nicht nur ich würde gerne verstehen, warum das Gehirn von Kindern mit frühkindlichem Autismus so funktionieren. Es gibt noch viel zu tun, um dem Geheimnis "Autismus" auf die Spur zu kommen.