Autismusshirt

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Sonntag, 3. Mai 2015

Reizüberflutung - oder zuviel neue Eindrücke?

Liebe Leser!
Reizüberflutung ist ein großes Problem für Autisten. Lärm, viele Menschen, neue Umgebung, Veränderungen aller Art -- all das macht vielen Autisten sehr zu schaffen. Sie schotten sich ab oder schreien, weil die Reize ein Gewitter in ihrem Kopf verursachen oder ihnen Sicherheit nehmen und dadurch Angst erzeugen.
Meine 6-jährige Enkelin ist frühkindliche Autistin; doch sie und wir haben das Glück, dass sie diese Arten der Reizüberflutung offenbar gut verarbeiten kann. Es darf für sie laut und schnell werden, weshalb sie gerne auf eine Kirmes geht. Auch die vielen Menschen dort machen ihr keine Angst. Sie akzeptiert jeden Besuch im Haus, jede Art der Veränderung in der Wohnung und in ihrem Zimmer und betritt auch jedes fremde Haus ohne Zögerung. Das macht das Leben mit ihr in dieser Hinsicht leicht.
Wenn es aber darum geht, dass sie durch neue Reize zu viel Neues sieht, das hintereinander auf sie einprasselt, ohne dass sie Gelegenheit hat, es einzeln zu verarbeiten und Neues daraus zu lernen, wird es ihr zuviel und sie will weg.
Kompliziert?
Ich versuche, es zu erklären.
Kommt sie beispielsweise in eine neue Umgebung (z.B. in die Wohnung von Bekannten), so kann sie sich in Ruhe umschauen, Vieles anfassen, herumgehen, sich auf verschiedene Plätze setzen etc.). Manches aber auch erkennt sie wieder, weil es ähnlich ist wie zu Hause. So kann sie die neue Umgebung erkunden und die fremden Eindrücke in Ruhe verarbeiten. 
Nun wähle ich als Gegenbeispiel einen Zirkusbesuch. Dort prasselt eine aufregende und spektakuläre Nummer nach der anderen über einen sehr langen Zeitraum auf sie ein. Nach spätestens einer halben Stunde möchte sie weg. Das ist aus ihrer Sicht auch gut zu verstehen. In dieser kurzen Zeit hat sie bereits eine Pferdedressur, eine artistische Darstellung, einen Clownsauftritt und eine weitere Darbietung gesehen. Jetzt bräuchte sie viel Zeit, um diese zahlreichen Eindrücke zu verarbeiten. Während andere 6-jährige noch Tage nach der Vorstellung von den Albereien des Clowns erzählen, konnte meine Enkelin diese auf Grund ihres Autismus gar nicht verstehen. Denn es ist typisch für Autisten, dass sie (selbst wenn sie Sprache verstehen und selber sprechen) mit Anspielungen und Zweideutigkeiten nichts anfangen können. Die Clownsnummer hat sie somit schon überfordert. Wäre jedoch der Clownsauftritt nur eine von wenigen Darbietungen geblieben, so würde auch er einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen. Denn vier Zuschauer wurden aufgefordert, in die Manege zu kommen, um auf "Befehl" des Clowns z. B. einen Hund zu spielen. Diese Szene würde sie bestimmt zu Hause umsetzen, wenn sie hinreichend Zeit zum Verarbeiten weniger Zirkusnummern bekommen hätte. 
Beim ersten Zirkusbesuch vor zwei Jahren sind wir nach der Pause auch gegangen.Jetzt -- nach so vielen Fortschritten in anderen Lebensbereichen -- wollten wir feststellen, wie viel mehr Spaß die Kleine nun an einem Zirkusbesuch hätte. Doch die Bilanz war recht ernüchternd. Wir dürfen das Kind nicht mit neuen Reizen überfordern.Dann geht der Schuss nach hinten los.
Erschwerend kommt hinzu, dass Helena Marie viele neue Eindrücke besser verarbeitet, wenn sie dabei in Bewegung ist. Im Zirkus musste sie mehr oder weniger still sitzen bleiben. Etliche Kinder mit (frühkindlichem) Autismus neigen dazu, ihre Reizüberflutung durch motorische Agitation abzubauen. Denn als die Kleine vor drei Wochen in einem Wildpark einen riesigen Spielplatz neu kennen lernte, war ihre Ausdauer wesentlich größer, bis sie von selber nach dem "Auto" verlangte -- also nach Hause wollte.   
Fazit: Wir werden in Zukunft vor einer Unternehmung genauer überlegen, was meiner Enkelin Freude macht, ohne sie zu überreizen. Somit kommt auch Kino noch lange nicht in Frage; es sei denn, man ist bereit, mitten im Film rauszugehen. 
Zum Thema Kino noch eine kleine Episode:
Vor zwei Jahren haben wir die Kleine auch einmal mit ins Kino genommen, obwohl sie damals noch gar keine Sprache verstand. Doch wir hofften, sie würde am Film "Findet Nemo" Spaß haben wegen der vielen bunten Fische und der eindrucksvollen Bilder. Doch weit gefehlt: Helena Marie verbrachte die ersten 20min damit, Mama mit Popcorn zu füttern. Die Leinwand interessierte sie gar nicht. Danach fing sie an, so laut zu singen, dass wir Hals über Kopf das Kino verließen, um uns nicht den Zorn der anderen Zuschauer zuzuziehen.    
   

2 Kommentare:

  1. Ein wundervoller Blog.
    Ich erkenne meinen Sohn in vielen Deiner Erzählungen wieder ....
    herzliche Grüsse
    Elisabeth

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    1. Danke für diesen Kommentar.
      Mein Blog hat auch zwei Intentionen: Einerseits von meinen Erfahrungen mit meiner Enkelin zu erzählen; andererseits anderen Betroffenen Gedankenanstöße zu geben. Zwar ist jeder Autist anders, weil jeder Autist ein einzigartiges Individuum ist. Aber manche Besonderheiten sind ähnlich.
      Liebe Grüße!
      Ilse

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