Autismusshirt

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Mittwoch, 14. Mai 2014

Gedanken zur Inklusion in der Schule

Das Thema wird kontrovers diskutiert und schlägt hohe Wellen. Ich sehe die Sache aus zwei Blickwinkeln. Einerseits aus Sicht einer Lehrerin, die das Schulwesen somit aus professioneller Sicht kennt -- andererseits als Oma einer Fünfjährigen, die frühkindlichen Autismus hat. Ich zitiere eine Passage aus meinem Buch "Fanti, das kleine Schlitzohr - leben mit einem autistischen Kleinkind, das am 1.5.14 beim TIPONI-Verlag erschienen ist.

Große Hoffnung setzen wir auf die Förderschule, die wir jetzt schon für Marie ausgesucht haben. Dort werden behinderte Kinder elf Jahre lang gemäß ihrer persönlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten gefordert und gefördert. Für ca. 8 – 10 Kinder sind jeweils zwei Lehrer zuständig, die versuchen, ihnen lesen, schreiben, rechnen, kochen, Dinge des Alltags, aber auch schwimmen beizubringen und sie darauf vorzubereiten, später in Behindertenwerkstätten und betreuten Wohnheimen leben zu können.
Natürlich vermittelt diese Schule keinen Schulabschluss. Aber was soll ein Kind wie Marie damit? Sie wird sich nie in die normale Gesellschaft eingliedern lassen und dort ihren Platz einnehmen. Umso lächerlicher ist es, dass ihre Mama das Recht hätte, sie auf eine Regelschule zu schicken. Klasse. Was denken sich die Schulpolitiker bei dem so genannten Konzept der Inklusion? Wer soll die Verantwortung für ein Kind wie Marie übernehmen, die auch mit sechs Jahren nie unbeaufsichtigt sein dürfte, was in einer Regelschule gar nicht zu leisten ist. Was soll Marie in einer Regelschule, wenn sie nicht einmal die Anweisung versteht, sich auf den Stuhl zu setzen, geschweige denn, dass sie diese dann auch befolgen würde? Was sonst sollte sie von Unterricht mitbekommen? Ein Kind, das nicht eine Minute lang still an einem Platz bleibt, sondern sich seinen Bereich und seine Materialien selber sucht und keinerlei Unterrichtsinhalte verstünde. Soll es zum Klassenclown werden? Soll es von Anfang an von den Mitschülern gemobbt werden? Soll der Lehrer zwischendurch die Windel wechseln? Soll der Lehrer die Klasse allein lassen, um hinter Marie herzulaufen, wenn sie wieder einmal aus der Klassentür entwischt ist? Sollen sich alle köstlich amüsieren, wenn Marie zwischendurch auf den Gedanken kommt, sich bis auf die Windel auszuziehen und dann auf der Fensterbank herumzuspazieren? Wie sollen die anderen Kinder lernen können, wenn Marie völlig unvermittelt und laut anfängt zu singen, ohne dass man sie daran hindern könnte? Marie hätte auch bestimmt Spaß daran, den anderen Kindern die Hefte und Stifte zu entreißen, den Papierkorb zu entleeren, die Schultaschen der Mitschüler auszuräumen, das Licht im Raum ständig ein- und auszuschalten. Ihr fiele bestimmt noch viel mehr ein.
Was denken sich Schulpolitiker dabei, gesunden Kindern ein auf diese Weise behindertes Kind zuzumuten? Unterricht und Lernen wird unmöglich, die Lehrkraft ist völlig überfordert, die Eltern sind zu Recht aufgebracht. Marie gehört nicht in eine Regelschule. Sie muss in eine Einrichtung, in der die Lehrer- Schüler-Relation eine andere ist, in der die Lehrer speziell ausgebildet sind, in der andere behinderte Kinder ebenfalls das Unterrichtstempo beeinträchtigen, so dass nur das geschafft wird, was machbar ist, weil kein Lehrplan ein bestimmtes Soll vorgibt. Hier kann auch ein Kind wie Marie langsam daran gewöhnt werden, dass sie eine Weile auf ihrem Stuhl sitzen bleibt, dass sie sich bei anderen Kindern abguckt, gewisse Dinge im Rahmen ihrer Fähigkeiten nachzumachen. Hier kann ein Lehrer sie wieder einfangen, wenn sie aus der Klasse entwischt, ohne dass die anderen Kinder unbeaufsichtigt zurück bleiben. Hier ist auch das Schulgelände gesichert, so dass Schüler nicht weglaufen können. Hier kennt jeder Lehrer jeden Schüler, so dass ein Kind, das sich aus Versehen mal irgendwo aufhält, wo es nicht hingehört, sofort wieder in den richtigen Raum zurück gebracht wird.
In einer Regelgrundschule kommen oft schon die Kleinen allein zur Schule, laufen selbstständig durchs Gebäude, finden ihre Klasse, bleiben selber bei ihrer Gruppe und werden nur während der Unterrichtsstunden und in den Pausen beaufsichtigt.
Undenkbar für ein Kind wie Marie. Man darf sie – außer in einem abgeschlossenen Raum, der sicher ausgestattet ist  – keine Minute aus dem Auge lassen. Sonst macht sie sich selbstständig auf den Weg und niemand weiß, was passiert und ob man sie überhaupt und wenn ja, unverletzt wiederfindet.
Integrative Schule ist durchaus sinnvoll für Kinder mit körperlichen Behinderungen oder leichten geistigen Schwächen. Sie können durch zusätzliche Hilfsmittel genauso lernen wie die gesunden Kinder und dadurch auch Schulabschlüsse erwerben.
Aber die Idee, Förderschulen auf Dauer abschaffen zu wollen und alle Kinder in Regelschulen zu integrieren, macht uns richtig Angst. Sollte das tatsächlich noch während Maries schulpflichtiger Jahre umgesetzt werden, setzen wir alle Hebel in Bewegung, um zu verhindern, dass sie dann noch zur Schule gehen muss.
Noch jedoch haben wir die Hoffnung, dass Marie eine schöne Schulzeit in der Förderschule erleben wird. Unsere einzige Sorge sind momentan noch die langen Schultage. Mit knapp viereinhalb Jahren ist Marie schon nach einer Therapiestunde geschafft und möchte am liebsten erst einmal ihre Ruhe haben. Ein Schultag würde bedeuten: Abholen mit dem Behindertenbus morgens um 7.00h; Unterricht von 8.00h bis 16.00h; Rückkehr nach Hause um 17.00h. Wenn sie dann immer noch ein ausführliches Zubettgehritual braucht zuzüglich Körperpflege, vorher aber noch viel Zeit braucht, um die Eindrücke des Tages zu verarbeiten: Dann wird die Nacht kurz und wahrscheinlich auch sehr unruhig. Morgens braucht Marie auch für ihre ganzen Verrichtungen ca. 1,5 Stunden. Und je mehr wir drängen, desto langsamer geht es. Zwang führt zu gar nichts. Momentan braucht sie mindestens 12 Stunden Schlaf. Die müssten drastisch reduziert werden, wobei wir noch nicht einschätzen können, wie sie das verkraftet.
 
Fakt ist, dass viele Schulen räumlich noch gar nicht auf die Situation eingerichtet sind. Ruheräume für Autisten, die sich zwischendurch zurückziehen müssen, gibt es nicht. Die Lehrer an Regelschulen sind nun mal keine Sonderpädagogen und sind deshalb nicht ausgebildet für den Umgang mit autistischen Kindern, die völlig anders reagieren als neurotypische Kinder. Lehrer, die sich um 20-30 Kinder in einer Klasse kümmern müssen, haben gar nicht die Möglichkeit, sich speziell um ein autistisches Kind zu bemühen. Die so genannten Schulbegleiter und Integrationshelfer, die autistischen Kindern zustehen, sind rar, werden oft nicht bewilligt, sind zum Teil keine Fachkräfte und bringen, wenn davon mehrere in der Klasse sind, viel Unruhe in den Unterricht.
 
An sich ist der Gedanke gut, Autisten nicht wie Sonderwesen zu betrachten und sie soweit wie möglich in die Gesellschaft einzubeziehen. Es gibt auch autistische Kinder, bei denen der Besuch einer Regelschule funktioniert. Denen sollte er auf keinen Fall verwehrt werden. Ich wehre mich nur dagegen, dass auf Dauer Förderschulen abgeschafft werden sollen, in denen Kinder (die sich im stressigen Trubel allgemeiner Schulen nie zurecht finden und dort gemobbt würden) in Ruhe nach ihren Fähigkeiten gefördert und gefordert werden. 

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